Alzey in Rheinland-Pfalz, am 8. April dieses Jahres: Bundeskanzler Olaf Scholz treibt einen roten Spaten in den Sand, begeht feierlich den symbolischen Spatenstich zu einem "Leuchtturm-Projekt" wie er sagt. In den kommenden Jahren soll hier ein hochmodernes Pharmawerk des US-Konzerns Eli Lilly mit rund 1.000 Arbeitsplätzen entstehen. "Was immer wir als Bund tun können, um den Pharmastandort Deutschland noch weiter zu stärken, das werden wir tun." Recherchen von WDR, NDR, Süddeutscher Zeitung (SZ) und dem Rechercheteam "Investigate Europe" zeigen nun, was der Kanzler damit gemeint haben könnte. Interne Unterlagen aus dem Gesundheitsministerium erhärten den Verdacht, dass der Pharmariese die Ansiedlung in Rheinland-Pfalz an eine Gesetzesänderung geknüpft haben könnte.
Konkret geht es um die deutsche Preisregulierung für die Pharmaindustrie, von der ganz Europa abhängig ist. Bislang dürfen Pharmakonzerne zunächst den Preis frei wählen, wenn in Deutschland ein neues Medikament auf den Markt kommt. Erst nach einem Jahr bewertet ein Gremium aus Vertretern von Ärzten, Krankenkassen und Kliniken den Wert des neuen Medikaments. Kommen Sie zum Ergebnis, dass das neue Präparat keinen belegten Zusatznutzen gegenüber bisher verfügbaren Therapien hat, muss der Pharmakonzern einen Rabatt gewähren, der oft mehr als 50 Prozent beträgt. Dieser deutsche Rabattpreis ist bisher öffentlich einsehbar - und hat Auswirkungen weit über die Grenzen hinaus. Denn viele andere europäische Länder wollen dann auch einen entsprechend hohen Rabatt von den Pharmafirmen. Eli Lilly fordert nun, die Rabatte künftig geheimhalten zu dürfen. "In den meisten Staaten der EU werden getroffene Rabattverhandlungen vertraulich behandelt", erklärt Lilly auf Anfrage. "Das sollte unserer Meinung nach auch für Deutschland gelten."
Nach Unterlagen, die WDR, NDR, SZ und Investigate Europe mithilfe des Informationsfreiheitsgesetzes erstritten haben, könnte das Unternehmen seine milliardenschwere Investition genutzt haben, um die gewünschten Geheimpreise in einem neuen Gesetz durchzusetzen. So notierte der Leiter der wichtigen Abteilung für Arzneimittel im Gesundheitsministerium nach einem Treffen mit Lilly-Firmenvertreter am 30. August 2023, dass Lilly eine Investition "im niedrigen einstelligen Milliardenbetrag" in Rheinland-Pfalz plane. Dann aber schreibt der erfahrene Beamte, der den Job seit vielen Jahren macht: "Eli Lilly knüpft seine Investitionsentscheidung an die Zusage der Bundesregierung, vertrauliche Rabatte bei innovativen Arzneimitteln zu ermöglichen." Schon Monate vor dem Gespräch des Abteilungsleiters mit Lilly hatte das Kanzleramt das heikle Thema mit dem Unternehmen beraten. So hat der Staatssekretär im Bundeskanzleramt, Jörg Kukies, Anfang 2023 insgesamt dreimal mit dem Chef von Eli Lilly, David Ricks, über die Pharmapolitik und die Einführung geheimer Arzneimittelpreise in Deutschland gesprochen. Am 16. Februar griff Kanzler Scholz sogar selbst zum Hörer und telefonierte mit dem Chef von Eli Lilly.Pharmakonzern dementiert In einem weiteren Aktenvermerk aus dem Ministerium zwei Monate später heißt es ebenfalls: "Befürworter einer solchen Regelung ist insbesondere die Firma Lilly, die ihre Investitionsentscheidung in Alzey an einen in Aussicht gestellten vertraulichen Erstattungsbetrag geknüpft hatte." An anderer Stelle heißt es in Bezug auf die Geheimpreise: "Dem CEO von Eli Lilly kann mitgeteilt werden, dass das BMG dem Wunsch von Eli Lilly nachkommt." Mit den Zitaten aus den Akten konfrontiert, dementiert der US-Pharmakonzern, die Bundesregierung unter Druck gesetzt zu haben: "Unser Unternehmen hat zu keiner Zeit die Investitionsentscheidung in Rheinland-Pfalz an eine derartige Zusage von Seiten der Bundesregierung geknüpft". Eli Lilly sei lediglich "im Zuge des Bekanntwerdens" der Eckpunkte des Medizinforschungsgesetzes "darauf aufmerksam gemacht worden, dass das Gesundheitsministerium die Einführung von vertraulichen Erstattungsbeträgen positiv geprüft" habe. Die Entscheidung über die Investition in Rheinland-Pfalz sei bereits zuvor getroffen und bekannt gemacht worden.
Das Gesundheitsministerium selbst äußert sich auf Anfrage nicht konkret zu den Zitaten aus den Akten. Ein Sprecher teilt lediglich mit: "Minister Lauterbach sind keine Vermerke bekannt, in denen er sich Eli Lilly gegenüber zu diesem Thema geäußert hätte. Für ihn persönlich hat die Haltung von Eli Lilly keine Rolle bei der Entwicklung der Pharmastrategie gespielt." Inzwischen haben der Bundestag und der Bundesrat die Geheimpreise als Teil des Medizinforschungsgesetzes beschlossen. Sobald es verkündet wird, kann es nun in Kraft treten. Nahezu alle Experten im Gesundheitswesen halten die Regelung für schädlich. Sie führe zu höheren Preisen in anderen europäischen Ländern - und auch in Deutschland, weil Ärzte bei bestimmten Arzneimitteln gar nicht mehr die genauen Preise kennen, also auch nicht mehr wissen, ob ein Medikament teurer oder billiger ist als ein gleich gutes anderes.Ministeriumsmitarbeiter warnten Lauterbach Im Mai hatte Minister Karl Lauterbach Interview mit WDR, NDR, SZ und Investigate Europe noch auf die massive Kritik von Experten an den geplanten Geheimpreisen mit dem Hinweis reagiert, dass "die Fachabteilung meines Hauses den Vorschlag richtig gut findet". Die Akten des Ministeriums sprechen eine andere Sprache. Demnach warnten die Beamten ihren Minister, "dass die Ermöglichung eines vertraulichen Erstattungsbetrags zu erheblichen Problemen in der Umsetzung führen würde". "Gleichzeitig erachtet ein Großteil der pharmazeutischen Industrie dies nicht als zentrale Maßnahme." Auch warnen die Beamten vor "Mehrkosten", denn "wesentliche Elemente der effektiven Arzneimittelsteuerung … wären nicht mehr anwendbar". Inzwischen nimmt auch in der Regierungskoalition die Kritik an Lauterbach zu. Die Haushaltspolitikerin und Bundestagsabgeordnete der Grünen, Paula Piechotta, von Beruf selbst Ärztin, sagt: "Die massiven Bedenken des Parlaments und quasi aller Akteure im Gesundheitswesen wurden - das sehen wir anhand der nun veröffentlichten Dokumente - auch von den Fachleuten im Ministerium geteilt."
Der Chef des Gemeinsamen Bundesausschusses, der frühere saarländische Gesundheitsminister Josef Hecken (CDU), kritisiert, dass mit den Geheimpreisen "ein bisher effektives und gutes Instrument zu Gunsten der Pharmabranche unnötig geschwächt wird". Vor allem die Krankenkassen aber fürchten drastische Kostensteigerungen: Wenn nur für zehn Prozent aller neuen Medikamente der Preis geheim bleiben soll, "wären bereits im ersten Jahr Mehrkosten von bis zu 840 Millionen Euro denkbar", hat der Spitzenverband der Gesetzlichen Krankenkassen (GKV) ausgerechnet. Weil mit jedem Jahr aber mehr neue Medikamente dazu kommen, könnten sich innerhalb einer Dekade "acht Milliarden Euro an zusätzlichen Jahreskosten aufbauen", teilt GVK-Arzneimittelvorstand Stefanie Stoff-Ahnis mit. Lauterbachs Ministerium hält dem entgegen: "Die von der GKV-Seite befürchteten massiven Mehrkosten durch die Regelung basiert auf unsicheren Annahmen."
Derzeit verhandelt der Pharmakonzern Eli Lilly mit den Krankenkassen über den Preis für sein neues Diabetesmedikament Mounjaro, das gleichzeitig als Abnehmspritze bekannt ist. Für Diabetespatienten bezahlen es die Krankenkassen, Abnehmwillige müssen es aus eigener Tasche bezahlen. Es wird erwartet, dass Lilly für Mounjaro eine ordentlichen Rabatt gewähren muss, weil der Gemeinsame Bundesausschuss von Kassen und Ärzten dem Medikament in mehreren Indikationen keinen Zusatznutzen bescheinigt hat. Experten rechnen damit, dass Lilly bei diesem Präparat nun erstmals vom Recht auf einen Geheimpreis Gebrauch machen wird. Die Firma selbst will das nicht kommentieren. Der Vorteil wäre aber klar: Die Abnehmwilligen zahlen für ihre Spritze einen hohen Preis - und erfahren nicht, wie groß der Rabatt ist, den Krankenkassen auf das Präparat bekommen. Ärzte wiederum blieben im Unklaren über die genauen Kosten von Mounjaro gegenüber vergleichbaren Präparaten.