Nach der Rückkehr aus seinem Urlaub sagt Alexis S., habe er sich auf Corona testen lassen. Am Dienstag vor zwei Wochen habe ihn dann sein Arzt angerufen, dass er positiv sei. Zwei Tage später sei dann eine E-Mail vom Gesundheitsamt gekommen: "Bitte listen Sie alle Kontakte auf, mit denen Sie mehr als 15-minütigen 'face-to-face'-Kontakt hatten, bzw. sich für längere Zeit im selben Raum oder an einem gemeinsamen Tisch (z.B. im Restaurant, Biergarten) aufgehalten haben".
Alexis S. dachte nach und zählte acht Menschen, sieben davon aus München, einer aus Darmstadt. Auch sein Vater war darunter, ein Mann über 70, der schon zwei Herzinfarkte hinter sich hat. S. sagt, er habe die Namensliste noch am selben Abend an das Gesundheitsamt geschickt. Doch soll nichts passiert sein. Eine Woche später hätten die Kontaktpersonen von Alexis S. noch immer keine Nachricht vom Gesundheitsamt bekommen, sagt er. In Quarantäne geschickt worden sei bis heute keiner der acht.
Auf Anfrage teilt das Münchner Gesundheitsamt mit, dass Kontaktpersonen "immer kontaktiert und in Quarantäne geschickt werden". Allenfalls könne "bei einem massiven Aufkommen" die Kontaktperson nicht immer "am selben Tag" kontaktiert werden.
Doch wenn man die Berichte auch von anderen Infizierten und ihren Kontaktpersonen hört, ist das eine Untertreibung. So erzählt auch ein Freundeskreis, der Mitte September aus unterschiedlichen Städten in einem Münchner Biergarten zusammenkam, wie unterschiedlich deutsche Gesundheitsämter die Nachverfolgung von Corona-Kontakten handhaben. Während das Gesundheitsamt Berchtesgadener Land einem Biergarten-Besucher nach einem positiven Test in der Gruppe rigoros zwei Wochen Quarantäne verordnete, seien die drei Münchner Gäste ebenfalls zehn Tage lang nicht kontaktiert worden.
Wie gut klappt also die Kontaktpersonen-Verfolgung in Deutschland tatsächlich? Vor einer Woche hatten 99 Prozent der Gesundheitsämter, die auf eine Anfrage von NDR, WDR und "Süddeutscher Zeitung" (SZ) geantwortet hatten, mitgeteilt, dass sie "alle" oder "fast alle" Kontaktpersonen erfolgreich erreichen. Dazu passen aber nicht die Berichte von Betroffenen, die sagen, dass die Kontaktpersonen, die sie ans Gesundheitsamt meldeten, gar nicht kontaktiert worden seien. Was stimmt?
Am Freitag wurde zumindest klar, dass die Gesundheitsbehörde in München die Kontakt-Nachverfolgung allein offenbar nicht mehr schafft. Sie gab bekannt, "ab sofort Amtshilfe durch die Bundeswehr" zu erhalten: 52 Soldatinnen und Soldaten würden das Amt nun bei der Kontakt-Nachverfolgung unterstützen.
In Berlin, wo die Zahl der Corona-Infektionen derzeit nach oben schnellt, sollen ab heute ebenfalls Bundeswehr-Soldaten die Gesundheitsämter bei der Kontaktpersonen-Nachverfolgung unterstützen. Laut Bundesverteidigungsministerium waren bislang bundesweit rund 220 Soldatinnen und Soldaten in 33 Gesundheitsämtern im Einsatz.
Mitte April hatten die Bundeskanzlerin und die Ministerpräsidenten beschlossen, dass pro 20.000 Einwohner ein Team aus fünf Personen in den Gesundheitsämtern sich um die Ermittlung von Kontaktpersonen kümmern soll. Bayern zum Beispiel hat 13 Millionen Einwohner, also müssten dort 650 solcher Teams zur Verfügung stehen.
Der Landtagsabgeordnete Sebastian Körber erhielt vergangene Woche von der bayerischen Landesregierung aber die schriftliche Auskunft, dass nur 288 solcher Teams "im Einsatz" seien. Auf Anfrage teilt das Gesundheitsministerium jetzt NDR, WDR und SZ mit, dass diese Zahl "im Bedarfsfall unter Einbeziehung der Reservekräfte" auf 646 Teams erhöht werden könnte.
Körber wundert sich dennoch: "Wenn man es in unserer Landeshauptstadt mit Tausenden von Bediensteten im Ernstfall nicht schafft, die notwendige Anzahl von wichtigen Kontaktverfolgungsteams zu stellen und auf die Amtshilfe der Bundeswehr angewiesen ist, wie sehr muss man sich dann im ländlichen Raum Sorgen um eine sichere Ermittlung, Nachverfolgung und Überwachung von COVID-19-Fällen und deren Kontaktpersonen machen?"
Auch andere Bundesländer erfüllen derzeit offenbar die Verpflichtung nicht, genügend Mitarbeiter für die Kontaktnachverfolgung zur Verfügung zu stellen. Baden-Württemberg müsste gemessen an der Bevölkerungszahl 553 solche Teams haben, tatsächlich gibt es dort nach Auskunft des Gesundheitsministeriums aber nur 292, bis Ende dieser Woche sollen es 314 Teams sein.
In Hessen gibt es 268 Teams, gefordert wären 313, im Saarland existieren 34 Teams, nötig wären 50. Nur Bremen hat nach eigenen Angaben ausreichend Personal für diese Aufgabe. Die anderen Länder antworteten ausweichend oder gar nicht oder behaupteten, dass ihnen diese Zahlen nicht vorlägen.
Zu den Gesundheitsämtern, die einräumen, nicht alle Kontaktpersonen zu erreichen, gehört Stuttgart. Die Mitarbeiter dort können Kontaktpersonen mitunter deshalb nicht erreichen, weil die Kontaktdaten falsch oder fehlerhaft seien, teilt die Stadt mit. In Calw macht dem Gesundheitsamt die "mangelnde oder verspätete Datenübermittlung von Busunternehmen oder Fluggesellschaften" zu schaffen, in Berlin-Neukölln klappe es nicht, dass die Aussteigerkarten bei Bus- und Flugreisenden elektronisch übermittelt werden und in Nordfriesland gebe es Infizierte, die ihre Kontaktpersonen "herunterspielen", wie das dortige Amt mitteilt. In Mülheim an der Ruhr hätten sich Kontaktpersonen auch "vereinzelt geweigert, mit dem Gesundheitsamt in Kontakt zu treten."
In Bremen konnten manche nicht erreicht werden, weil sie "falsche oder unvollständige Angaben gemacht" haben, wie die Behörde mitteilt, ein Phänomen, dass zuletzt auch bei einer Großhochzeit in Hamm oder im Szeneklub "Katze" in Hamburg zu beobachten war, wo in die Kontaktformulare "Darth Vader" oder "Supermann" eingetragen war. Auch diese Kontaktpersonen konnten die Ämter nicht ermitteln.